6. Reisebericht: Im Reich der Mitternachtssonne

20. - 28. Juni 2018

Der "Top of the World-Highway" war nicht das was man sich unter einem "Highway" vorstellt. Die geteerte und gut ausgebaute Straße ging in eine teilweise fast einspurige Schotterpiste über, die sich über einige kleinere Pässe und entlang eines Flusses schlängelte. Abgründe neben der Piste erinnerten entfernt an Südamerika. Interessant für uns waren die riesigen Abraumhalden, denn noch heute wird von jungen Abenteurern mit alten Baggern versucht, der Erde einige Gramm Gold abzuringen. Kurz vor der amerikanisch-kanadischen Grenze, ca. die letzten 10 Kilometer, ist der Highway plötzlich wieder geteert und top in Ordnung. Scheinbar wollen die USA, dass wir sie gut in Erinnerung behalten, denn nach der Grenzstation geht es auf kanadischer Seite auf Schotter weiter. Der Grenzübertritt ist wieder völlig entspannt und wir fahren weiter Richtung Dawson City.

Dawson City! Es ist gerade einmal 118 Jahre her, da war diese Stadt in aller Munde, nämlich als das Zentrum des Klondike Goldrausches. Die ehemalige Ureinwohnersiedlung wuchs innerhalb von zwei Jahren zu einer Stadt mit mehr als 30.000 Einwohnern an, nachdem die ersten erfolgreichen Goldsucher ihr Vermögen in der Heimat präsentiert hatten. Unvorstellbare Strapazen haben die damaligen Glücksritter auf sich genommen, um zu den Goldfeldern des Klondike zu gelangen, da der extrem beschwerliche Weg nach Dawson City nur über den sehr steilen Chilkoot Pass und per Hundeschlitten, im weiteren Verlauf dann auf dem Yukon mit selbst gezimmerten Booten, oder später auch per Schaufelraddampfer, möglich war. Doch bereits 1902 war alles vorbei und die Stadt schrumpfte zum Dorf. In den 1960er Jahren wurde jedoch begonnen, die historischen Gebäude zu restaurieren und das Flair der Goldrauschzeiten wird in dieser urigen Stadt bis heute gepflegt.

Es gefällt uns in die Vergangenheit einzutauchen, zu sehen, dass auch heute noch - wenn auch mit modernerem Gerät - Glücksritter das letzte Gold aus Yukon und Klondike herausquetschen, und wir verbringen einen Abend in "Diamond Tooth Gerties Gambling Hall", einem Spielkasino, das damals der Diamantzahn-Gertie gehörte und heute noch mit Can Can-Show das "gute alte Zeit"-Feeling vermittelt.

Uns zieht es in die Arktis. Nahe Dawson City beginnt der "berüchtigte" Dempster Highway, die einzige Verbindung in Kanada über den Polarkreis hinaus nach Inuvik und weiter ans Polarmeer. Die letzte Etappe der Schotter- und Erdstrasse zum arktischen Ozean wurde erst im letzten Jahr fertiggestellt und ist das nördlichste Ziel unserer Reise auf dem amerikanischen Kontinent.
Vor fast 5 Jahren waren wir in der Antarktis, jetzt wollen wir nach der Durchquerung der "Americas" unsere Finger auch in der Arktis ins Polarmeer tauchen. Der Weg von Dawson City ist weit: 740km bis nach Inuvik und dann noch weitere 140km auf der neuen Piste bis nach Tuktoyaktuk, kurz vor dem 70. Breitengrad. Das heißt insgesamt knapp 1.800km Schotter- und Erdstraße durch die Einsamkeit des Nordens, somit wird am Toyo nochmals alles kontrolliert und als Wichtigstes die Frontscheibe gegen Steinschlag gesichert, denn es sind auch Versorgungs-LKWs auf der Strecke unterwegs und wir möchten nicht, dass uns durch aufgewirbelte Steine die Scheibe und Scheinwerfer zerschoßen werden. Wir hatten schon in Anchorage Plexiglasscheiben besorgt, die wir jetzt mit doppelseitigem Klebeband auf unsere normale Windschutzscheibe kleben.
Wir starten am 21. Juni, pünktlich zur Sommersonnenwende, in das Reich der Mitternachtssonne.

Der Dempster verläuft auf einer isolierenden Schotterschicht über dem Permafrostboden, um die Gefahr des Auftauens zu minimieren. Durch die ständige Erosion des dennoch im Sommer antauenden Bodens ist die Piste oft wellig und weich, doch es wird auch permanent daran gearbeitet. Natürlich nur in dem kurzen ca. dreimonatigen Sommer. Im Winter ist alles kein Problem wird uns versichert, der Boden ist gefroren und es gibt noch eine Winterstrasse, meistens über zugefrorene Flüsse und Seen. Trotz Minustemperaturen von bis zu -50 Grad Celsius können wir uns schwer vorstellen, dass schnell fließende Flüsse, größer als Donau oder Rhein, so zufrieren und man sogar mit einem schweren LKW darauf fahren kann. Aber jetzt ist Sommer in der subarktischen Tundra, der geschmolzene Schnee hat unzählige Seen gebildet, da das Wasser wegen des Permafrostes nicht abfließen kann und wir werden von Moskitos aufgefressen. Das wird uns im Norden Kanadas noch länger begleiten.

Wir übernachten auf einem Hochplatau und erleben zum ersten Mal die Mitternachtssonne. Bei leichtem Regen mit einem wunderschönen Regenbogen und einem traumhaften Rundumblick. Ja, ab dem Polarkreis hat es im Sommer 24 Stunden Tageslicht. Die Sonne berührt nur noch kurz den Horizont und geht wieder auf - eigentlich geht sie ja gar nicht mehr unter…

In Inuvik zeigt das Thermometer 9 Grad Celsius im Hochsommer. Während wir unsere warmen Anoraks anziehen, laufen die Einheimischen schon im T-Shirt rum. Ja, die Menschen im hohen Norden haben definitiv ein anderes Kälteempfinden. Wir fahren weiter durch die Tundra und an zugefrorenen Seen vorbei nach Tuktoyaktuk, bis zum nördlichsten Ende der Straße. Diese endet auf einer Halbinsel am Polarmeer und die campenden Gäste dürfen hier übernachten. Für die wenigen Menschen die hier leben ist es neu, dass Touristen zu ihnen kommen und sie sind neugierig. Mit ihren Pickups drehen sie eine Runde über die Halbinsel, um Touristen anzuschauen. Es sind noch 4 Grad Celsius, es nieselt und es weht ein eisiger Wind, doch die Anwohner wollen mit uns ins Gespräch kommen. Es sind nicht viele Touris, die mit uns in der Kälte stehen..... Wir lernen, dass man hier von der Ölindustrie lebt, auch wenn bislang keine Pipeline gebaut wurde, und der Walfang nach wie vor eine Tradition der früher Eskimos genannten Einheimischen ist.

In Inuvik hat es am nächsten Tag fast sommerliche Temperaturen und wir verbringen einen netten Abend mit Kanadiern aus Toronto und British Columbia, die alle auch am Polarmeer waren und uns - ebenso wie die vielen Motorradfahrer denen wir begegnen - erklären, dass die erstmals im Sommer mögliche Fahrt ans Polarmeer und dann noch zur Mitternachtssonne schon etwas Besonderes ist.
Wir empfinden das auch, nicht zuletzt da diese Tour an das Polarmeer das gefühlte Ende unserer Reise durch den amerikanischen Kontinent darstellt. In Ushuaia, Argentinien, am südlichsten Ende des Kontinents und gerade einmal 2 Monate "on tour", wußten wir noch nicht, ob wir jemals das Polarmeer erreichen werden. Obwohl wir noch fast 900km Schotterpiste vor uns haben und danach quer durch Kanada an die Ostküste fahren, fühlen wir uns angekommen.
Die Tränen in den Augen stammten allerdings eher vom eiskalten Polarwind. Die außergewöhnliche Fahrt in den hohen Norden gehört aber in jedem Fall zu den Highlights unserer Reise.